30.12.2020

Jetzt nur nicht die Nerven verlieren! Wie aber die Nerven behalten?

Wann besteht die Gefahr, die Nerven zu verlieren? –Wenn man durch ein Ereignis überrascht wird, wenn der «Bauch» anstatt der Vernunft das Verhalten diktiert, wenn man die Orientierung in der Wirklichkeit zu verlieren beginnt. In der NZZ vom 18. Dezember 2020 liest man im Leitartikel, dass Covid-19 Europa völlig unvorbereitet traf und Politik und Gesellschaft total überforderte. 

Die Vereinigung «Pro 
Militia» beschäftigt sich schon seit 2018 intensiv und konkret mit der Führung der Schweiz im Falle einer Krise. Im Sommer 2019, also noch vor Corona, hat «Pro Militia» einen Bundesführungsstab gefordert. Bei Krisen geht es um einen Wendepunkt einer Entwicklung, welche Entscheide erfordert. Folgt nach dem Wendepunkt eine Verschlechterung der Entwicklung, droht ein realer Niedergang, eine «Katastrophe».

1  Zusammenfassung

In einer Krise, welche grössere Teile der Schweiz oder sogar die ganze Schweiz betrifft, muss der Bund die Führung klar und so effektiv wie möglich übernehmen können, auch wenn die Schweiz ein föderaler Rechtsstaat ist. Die seit Februar 2020 andauernde Coronapandemie bestärkt dieses Postulat. Die Führungsentscheide müssen professionell und zeitgerecht vorbereitet und umgesetzt werden. Dazu wird ein permanenter Bundesführungsstab (BFS) benötigt.

Der permanente BFS soll aus zwei Teilstäben bestehen: einem permanenten Kernstab, der die Führungsentscheide professionell und zeitgerecht vorbereitet und einem Ad hoc-Stab, der für die Bewältigung einer Krise mit Experten und wichtigen Kontaktpersonen ausgestattet wird.

Der BFS hat die Aufgabe, spezifische Fachkenntnisse, welche zur Bewältigung einer konkreten Krise benötig werden, zusammenzutragen und auf deren Basis Entscheide oder vorbehaltene Entschlüsse vorzubereiten und anschliessend deren Realisierung zu begleiten.

2  Status quo

Heute besteht auf Bundesebene kein permanentes Führungsorgan, welches vor, während und nach einer Krise im Einsatz ist.

Im Sicherheitspolitischen Bericht des Bundesrats 2016 (SIPOL 2016) werden wohl Gremien für die Bewältigung von Krisen aufgezählt. Welches dieser Gremien dann die Entscheidungsgrundlagen ausarbeitet und die Entscheide trifft, ist jedoch nicht präzise festgelegt. So wurde die Task Force des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zur Bewältigung der Coronapandemie erst am 23.01.2020 operativ! Die Swiss National COVID-19 Science Task Force (SN-STF) nahm ihre Arbeit sogar erst am 19.06.2020 auf.

Der Bundesrat und hinter ihm die Verwaltung lehnen bis anhin die Einrichtung eines permanenten BFS ab. Der Bundesrat begründet seine Haltung auf Seite 7874 des SIPOL 2016 wie folgt:

  • «Die permanente Ansiedlung eines thematisch universalen Krisenstabes in einem Departement wäre nur zu dem Preis möglich, dass er sich auf Formales beschränken und die Inhalte den Fachleuten überlassen würde.»
  • «Dieser formale Aspekt der Stabsarbeit (Strukturierung der Abläufe, Organisation des Stabes, Anwendung standardisierter Verfahren) ist aber weniger wichtig als die inhaltliche Expertise zum konkret vorliegenden Problem.»
  • Es besteht die Vorstellung, dass «das in der normalen Lagen zuständige Personal .... sein Feld .... den Krisenmanagern» überlassen müsste». Dies «... liefe auf eine Selbstentmündigung hinaus». Deshalb könnte ein gefährlicher «Widerstand» entstehen, so dass die Krise als solche nicht richtig erkannt würde.
  • «Eine Zuweisung an die Bundeskanzlei erscheint für die Durchschlagskraft eines Krisenstabes auch als ungünstig.»

Welches Menschenbild herrscht in der Bundesverwaltung vor? Warum ist von Selbstentmündigung (von Teilen der Bundesverwaltung) die Rede, wenn in strukturierten Prozessen gearbeitet werden soll? Warum wird sogar von gefährlichem Widerstand gesprochen, wenn eine einfache Pflicht zu erfüllen wäre?

Das im SIPOL 2016 publizierte Konzept der Führung auf Bundesebene in Krisen überzeugt nicht: Es wird weder professionell noch mit einer Hand geführt. Es wird auch nicht professionell kommuniziert. 

Führungsentscheide des Bundesrats entfalten nur dann ihre optimale Wirkung, wenn sie transparent, didaktisch-professionell, verständlich und mit einer sachlichen Begründung der Bevölkerung wiederholt erklärt werden. Diese wäre mit einem BFS gewährleistet. Geschieht dies nicht, entstehen Gerüchte. Gerüchte sind Dünger für Misstrauen.

Ein permanenter BFS würde einen Zugriff auf ein erforderliches Spezialwissen und wertvolle Erfahrungen jederzeit gewährleisten: vor, während und nach einer Krise sowie unabhängig von der Art der Krise. 

3  Strategische Ziele des BFS

Das Ziel jeder Führung in besonderen oder ausserordentlichen Lagen muss die grösstmögliche Gewährleistung von Sicherheit und Wohlergehen der Bevölkerung sein. Voraussetzungen dafür sind:

  • die Glaubwürdigkeit der Führungsverantwortlichen;
  • das Vertrauen Bevölkerung in die Führungsverantwortlichen;
  • die Solidarität innerhalb der Bevölkerung;
  • Politischer Wille der Kantone, über einen definierten Zeitraum hinweg auf einen Teil ihrer Hoheiten zugunsten des Ganzen zu verzichten;
  • Eigenverantwortung (Verantwortung für sich selber und für die Gesellschaft).

Allein mit dem Verordnen von Solidarität und Eigenverantwortung kann keine Krise bewältigt werden. Der Beweis für diese These wurde im Umgang mit der Coronapandemie erbracht. Das Tragen von Verantwortung und Eigenverantwortung der Bevölkerung und der Politikerinnen und Politiker verlangt nicht nur Kenntnisse über die Grundlagen für die zu fällenden Entscheide. Es setzt auch voraus, dass alle entscheidenden Personen über eine genügend grosse Ich-Stärke (Fähigkeit nach den eigenen Erkenntnissen logisch zu handeln), Selbstkontrolle, Willenskraft, Übersicht und Gemeinsinn verfügen.

4  Führung im Umfeld von Krisen

«Im Umfeld von Krisen» meint konkret: vor einer Krise, während einer Krise und nach einer Krise. Es gibt fünf entscheidende Einflussfaktoren auf das Resultat einer Krisenbewältigung: die Qualifikation der Führenden, die Qualifikation des Führungsteams, die Verfügbarkeit von Wissen und Erfahrung, die Reaktion der Geführten (Bevölkerung) und die Zeit.

Vor dem Ausbruch einer Krise ist genügend Zeit vorhanden, sofern ein intelligentes «Frühwarnsystem» vorhanden ist. Zu einem solchen System gehören: eine feste Organisation, definierte Arbeitsprozesse, ein eingespieltes Team und kompetente Fachkräfte. In der Fachliteratur wird von einer «ständige Kommission» mit Crew Resource Management Trainings gesprochen. Als Begründung wird aufgeführt: «Die Form der einzelnen Krisen ist unterschiedlich, nicht aber die Art und Weise, wie in Krisen gehandelt werden sollte».

Während einer Krise kann die Zeit zum entscheidenden Faktor für eine effektive Bewältigung der Krise sein. Mag der Föderalismus vor einer Krise noch funktionieren, in einer Krise kann er erhebliche Reibungsverluste erzeugen. Bei solchen Reibungen gehen Wissen und vor allem Zeit verloren. Der Föderalismus muss als dringend «krisentauglicher» gemacht werden.

Krisenbewältigung gelingt ohne eine Kohärenz zwischen der Bevölkerung und den Behörden nicht. Kohärenz heisst: Bevölkerung und Behörden ziehen «am gleichen Strick in die gleiche Richtung in breit verstandener Eigenverantwortung». Wenn die Behörden glaubwürdig sind, gewinnen sie das Vertrauen der Bevölkerung. Eine Bevölkerung, die Vertrauen hat, ist untereinander und mit den Behörden solidarisch. Wenn die Glaubwürdigkeit der Behörden gross ist, ist auch die Solidarität der Bevölkerung gross.

Während Krisen sind Umstellungen des Verhaltens unumgänglich. Dabei lauert die Gefahr, dass Führende und Geführte an Überzeugungen festhalten, welche sie immer noch mit einer politischen oder gesellschaftlichen Koalition teilen. In dieser Fixierung droht der Reflex, Vorurteilen «aufzusitzen», anstatt sachliche Lösungen zu suchen.

Mit einem permanenten BFS liesse sich der Einfluss von politischen oder sachlichen Vorurteilen auf ein Minimum reduzieren. Denn die Klarheit des Denkens beginnt vor der Krise. Und klares Denken kann nur im Team geschult werden (siehe Crew Resource Management Trainings). 

5  Das Modell der «Pro Militia»

Der BFS besteht aus zwei Teilstäben: dem permanenten Kernstab und dem Ad hoc-Stab. Die Angehörigen des permanenten Kernstabs arbeiten vollamtlich. Der permanente Kernstab besteht aus drei Untergruppen: Kommunikation, Nachrichten und Führungsunterstützung.

Der Ad hoc-Stab wird entsprechend den konkreten Ansprüchen für die Bewältigung einer Krise aus weiteren Experten und wichtigen Kontaktpersonen zusammengesetzt. Diese Experten werden - je nach Lage und Bedarf - für die Arbeit im BFS aufgeboten. Sie bilden während der Stabsarbeit ebenfalls Untergruppen. Solche Untergruppen könnten sein: Bundesamt für Bevölkerungsschutz, Nationaler Führungsstab Polizei, Koordinierter Sanitätsdienst (KSD), Zivildienst, Operationen der Armee, Grenzwachtkorps, Recht und Internationale Beziehungen, Wirtschaft und Schnittstelle Kantone.

Die Unterstellung des BFS sollte situativ erfolgen. Es kommen vier Varianten in Frage: Unterstellung unter das «Präsidialdepartement» (Variante 1); unter das von der Krise am meisten betroffene Departement (Variante 2a); unter das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) (Variante 2b) und unter die Bundeskanzlei (Variante 3). «Pro Militia» priorisiert Variante 3. Die wichtigsten Gründe dafür sind: Die Chefin oder der Chef der Bundeskanzlei wird primär unabhängig von einer «Zauberformel» oder einer Parteizugehörigkeit gewählt. Die Bundeskanzlei verfügt per se über eine gute Übersicht über die Arbeit in allen Departementen. Bei der Wahl der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers steht die Fach- und Sachkompetenz im Vordergrund. Der allgemeine Primat der Politik wird respektiert. Weil die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler in grösseren Zeitabständen wechseln, ist eine Konstanz für den BFS gewährleistet.

Das Anliegen, einen permanenten BFS einzurichten, wurde durch Herrn Ständerat Thierry Burkart (FDP AG) am 2. Juni 2020 in Form eines Postulats (20.3478) dem Ständerat eingereicht. Der Vorstoss wurde am 19. August 2020 vom Bundesrat und am 17. September 2020 vom Ständerat abgelehnt. – Dennoch bleibt «Pro Militia» auf dem Weg und gibt nicht auf.

Aus theoretischer Warte betrachtet und von der Vernunft her kommend ist die Schaffung eines permanenten BFS dringend notwendig. Aus empirischer Warte betrachtet und von den jüngsten Erfahrungen im Umgang mit der Coronapandemie her kommend ist die Schaffung eines permanenten BFS ein Muss. 

Strategiekommission „Pro Militia“ 

Dan Urech, Oberst aD, Mollis
Martin Oberholzer, Oberst aD, Basel 

 

Foto: Philipp Schmidli (VBS/DDPS)